Tafel 1: Die Streuobstwiesen - wertvoller Lebensraum in traditioneller Kulturlandschaft
Streuobstwiesen sind Kulturlandschaften und somit von Menschen geschaffene (Kultur-)Biotope, die so in Mitteleuropa weder von selbst entstehen würden, noch sich ohne menschliches Zutun über einen längeren Zeitraum erhalten könnten.
Geschichte des (Streu-)Obstbaus
Obwohl bereits in jungsteinzeitlichen Siedlungsresten Beweise für die Nutzung von verschiedenen Obstarten wie beispielsweise Apfel, Birne und Süßkirsche gefunden werden konnten, handelte es sich bei diesen wahrscheinlich nicht um absichtlich angepflanzte, sondern wohl eher um gesammelte Früchte von in Wäldern wild wachsenden Obstbäumen (vgl. ZEHNDER et. al. 2006).
In Mitteleuropa lassen sich Kulturformen verschiedener Obstarten etwa ab Christi Geburt nachweisen, die vom Balkan und über Frankreich nach Mittel- und Westeuropa gebracht wurden (vgl. ZEHNDER et. al. 2006).
Durch die Ausdehnung des Römischen Reiches nach Norden in die Gebiete des heutigen Südwestdeutschland, wurden auch die Kenntnisse über Obstbau und dessen Kultivierung nach Germanien gebracht, was die Entwicklung des Obstbaus hierzulande entscheidend beeinflusste (SCHULZE 2004, S. 19). Auf diese Weise gelangten auch die bis dato bei den Germanen unbekannten Gehölze wie Pfirsich, Aprikose, Quitte, Mandel, Maulbeere und Mispel nach Mitteleuropa (vgl. LUCKE et. al. 1992).
In dem Volksrecht der Salischen Franken, der „Lex Salica“ (507-511 n. Chr.) ist dann zum ersten Mal auch der Obstbau sowie dessen Schutz auf dem Gebiet der Chatten, dem heutigen Hessen belegt (vgl. VOGLER, 2006).
Gegen Ende des 8. Jahrhunderts wurde unter Karl dem Großen die „Verordnung über die Krongüter („Capitulare de villis“) verfasst, die unter anderem der Förderung des Obstbaus dienen sollte, um künftig Hungersnöten entgegenzuwirken (vgl. LUCKE et. al., 1992).
Im Hoch- und Spätmittelalter sorgten vor allem die Klöster für die Ausbreitung des Obstbaues in Mitteleuropa. Neben der Errichtung von Obstgärten sorgte besonders auch der länderübergreifende Sorten- und Wissensaustausch für eine Verbreitung der Obstsorten sowie der Obstkultur. (vgl. HOLZER et. al. 2002).
Nachdem der Obstbau bis zum Ende des Mittelalters vorwiegend als Gartenkultur in der Nähe von Siedlungen betrieben wurde, so breitete er sich nach dem dreißigjährigen Krieg immer mehr in die freie Landschaft aus, sodass schließlich die Streuobstlandschaften entstanden, wie sie zum Teil heute noch vorzufinden sind. (vgl. SCHULZE 2004).
Auch das Aufkommen der Pomologie, der Lehre von den Obstsorten, deren Bestimmung und Systematik im 18. und 19. Jahrhundert, war für die weitere Entwicklung des Obstbaues dienlich und bewirkte unter anderem eine starke Zunahme der Obstsorten.
Jüngere Entwicklungen
Zu Beginn des 20. Jahrhundert wurden dann bei der Obstbaumzählung des Deutschen Reiches insgesamt 168.388.853 ertragsfähige Obstbäume gezählt. Dies entsprach einer Anzahl von 480 ertragsfähigen Obstbäumen je 100 Hektar landwirtschaftlicher Fläche. (vgl. LUCKE et. al., 1992). In etwa zu dieser Zeit kamen auch der Niederstamm sowie das Spalierobst als neue Baumformen auf den Markt, die gegenüber den Hochstämmen signifikante betriebswirtschaftliche Vorteile hatten (und diese auch nach wie vor besitzen). Diese neuen Baumformen bewirkten, dass der deutsche Hochstammobstbau kurz nach Ende des 2. Weltkrieges nach vielen Jahren wieder rückläufig wurde.
Unterstützt wurde dieser Trend durch staatliche Rodungsprämien für Hochstämme und Beihilfen für die Errichtung von neuen Niederstammanlagen. Dies führte zu einer schnellen Abkehr von Hochstammkulturen, sodass von 1958 bis 1978 in Deutschland praktisch keine Obsthochstämme mehr in der freien Landschaft angepflanzt wurden (vgl. LUCKE et. al., 1992).
Auch sorgten Siedlungserweiterungen, der Ausbau von Verkehrswegen, Flurbereinigungsverfahren sowie die Überalterung und eine mangelnde Pflege der Obstbäume zu einer weiteren Abnahme der Bestände.
Nach etwa 30 Jahren völliger Abkehr vom Streuobstbau wurde schließlich ab den 1980er Jahren der hohe landschaftsästhetische und ökologische Wert der Streuobstwiesen erkannt und wieder erste Bemühungen zu deren Erhaltung unternommen. Damit verbunden waren neben der Verlangsamung der Rodungen auch vermehrt Jungbaumpflanzungen. Dennoch ist seit dem 2. Weltkrieg die Anzahl der Hochstämme deutschlandweit drastisch um mehr als 70% zurückgegangen, wobei hier lokal starke Abweichungen feststellbar sind (vgl. HINTERMEIER 2009).
Vielerorts sind inzwischen nur noch punktförmig eingestreute Einzelbäume oder kleinere Baumgruppen als Reste ehemaliger größerer Bestände übrig geblieben, die an viele Stellen aufgrund ihres Alters sowie ihres Pflegezustandes in den nächsten Jahren verschwinden werden, sofern keine umfangreicheren Neupflanzungen erfolgen.
Funktionen und ökologische Bedeutung von Streuobstwiesen
Streuobstwiesen zählen zu den artenreichsten Biotopen in Mitteleuropa und sind mit etwa 5.000 Tier- und Pflanzenarten von überragender ökologischer Bedeutung. Für viele Tiere stellen Streuobstwiesen wichtige Ersatzbiotope und letzte Rückzugsgebiete dar. Dort leben heute stark gefährdete Arten wie beispielsweise Rotkopfwürger, Wiedehopf, Steinkauz, Mittelspecht, Wendehals, Gartenschläfer, Haselmaus, mehrere Fledermausarten sowie zahlreiche Schmetterlings- und Hautflüglerarten (vgl. HINTERMEIER 2009).
Auch der Unterwuchs der Bäume ist recht vielfältig. Neben zahlreichen gängigen, mehr oder weniger bunt blühenden Wiesenkräutern kommen unter Obsthochstämmen gelegentlich auch seltene, geschützte Pflanzen wie beispielsweise Orchideen und bestimmte rare Nelkenarten vor (vgl. LUCKE et. al. 1992). Diese Vielfalt an Tieren und Pflanzen ist zum einen auf die extensive Nutzung der Flächen und zum anderen auf die Strukturdiversität dieses Lebensraumes zurückzuführen.
Durch das Unterlassen intensiver Bewirtschaftungsmaßnahmen wie beispielsweise der Verzicht auf Pestizide, der weniger häufige Schnitt des Grases sowie das Belassen von Totholz und höhlenreicher Altbäume, bieten Streuobstwiesen einer sehr großen Zahl von Tier- und Pflanzenarten ideale Standort- und Lebensbedingungen. Vor allem besteht aber durch den stockwerkartigen Aufbau der Streuobstwiesen ein vielfältiges Mosaik an Kleinbiotopen, wodurch der Tierwelt eine Nischenvielfalt geboten wird, die weder das freie Acker- und Grünland, noch der geschlossene Wald bieten können. Die ohnehin schon hohe Strukturvielfalt der Streuobstwiesen wird oft noch zusätzlich durch verschiedene Begleitstrukturen wie beispielsweise Hecken, Gräben, Böschungen, unbefestigte Wege, Trockenmauern oder Reisighaufen erhöht (vgl. ZEHNDER et. al. 2006).
Neben den Funktionen der Streuobstwiesen als Habitat für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, besitzen sie zahlreiche weitere Funktionen:
- sie bereichern das Landschaftsbild und tragen vor allem zur Blüte- und Erntezeit zu einem hohen Erlebnis- und Erholungswert bei,
- sie wirken, vor allem in Hanglagen, der Bodenerosion entgegen und verhindern somit auch die oberflächliche Verlagerung von Nährstoffen sowie deren Eintrag in Gewässer,
- sie wirken ausgleichend auf das örtliche Klima, da sie als Schattenspender sowie Regen- und Windschutz die mittlere Windgeschwindigkeit senken und Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht abmildern,
- sie bilden mit ihrer hohen Sortenvielfalt ein Genreservoir mit vielseitigen Erbanlagen, die u. a. für künftige Resistenzzüchtungen im Obstbau von Bedeutung sein können. Alleine in Deutschland gibt es noch ca. 1000 verschiedene Apfelsorten,
- sie liefern Obst zur Deckung des Eigenbedarfs (zum Verzehr und für die Verarbeitung) sowie für die Verwertungsindustrie (vgl. HINTERMEIER 2009).
(Text: Martin Schaarschmidt, 2016, www.streuobstwiesenretter.de)
Auf einer Streuobstwiese (Foto: Stephan Kühn)
Vertiefende Informationen:
- Pflanzung und Pflege von Streuobstbäumen (käufliche Broschüre)
- www.streuobstwiesenretter.de - ein Projekt im Odenwald von Martin Schaarschmidt u.a.
- Broschüre "Klassenzimmer im Grünen" beim Deutschen Pomologen-Verein